Mit der Frage „Wann ist der Mann ein Mann?“ beschrieb Herbert Grönemeyer vor einigen Jahren die tiefe Verunsicherung der Männer über ihr Mann-Sein und über ihre Männlichkeit. Nachdem Frauen seit über drei Jahrzehnten auf der Suche nach einem neuen Selbstverständnis sind und aus den alten Mustern und Rollen ihrer Mütter aussteigen, haben sich die meisten Männer tiefer und tiefer in eine Sackgasse hinein bewegt, in der sie heute an Erschöpfung, Ängsten, Hilflosigkeit und häufig einem Gefühl der Sinnlosigkeit und Leere leiden.
Ohne Übertreibung sind Männer heute in der Mehrzahl leidende Wesen, die nicht gelernt haben, über ihr Innerstes zu sprechen. Sie schämen sich ihrer Verunsicherung und ihrer Misserfolge, Enttäuschungen und Schwächen, ihrer Ängste und ihrer Potenzschwierigkeiten, weil sie es als unmännlich empfinden, sich schwach und verletzlich zu zeigen. Der Mann hat sein Herz verschlossen und seinen rationalen Verstand zum Chef in ihm gemacht. Dieser Verstand, gefüllt mit vielen eingefahrenen, seit Generationen konservierten, unwahren Gedanken darüber, was man(n) zu tun und zu unterlassen hat, läuft jetzt immer mehr gegen eine Wand.
Die versteinerten, traurigen, todernsten oder hilflosen Gesichter der Männer lassen bei vielen durchschimmern, wie es um ihr Herz bestellt ist. Bisher verstand der Mann nicht, wie er dort landen konnte, wo er heute steht oder liegt, aber er hat auch nicht nach den Ursachen dafür geforscht, sondern sich abgefunden und durchgehalten. Das beginnt sich jetzt zu ändern.
In diesen Jahren steht der Mann wieder auf. Über Jahrtausende hat er vergessen, wozu er und die Frau auf die Erde kamen und was sein Auftrag hier ist. Jetzt, in dieser Zeit des Umbruchs und Aufbruchs – in der Transformationszeit um 2012 – erinnert er sich wieder an die Essenz seiner männlichen Natur und entdeckt die Begeisterung an seinem Mann-Sein.
Erst wenn die Verschiedenheit und damit die Einzigartigkeit des Frau- und des Mann-Seins wieder erinnert werden, erfährt auch die Liebesbeziehung zwischen Frau und Mann eine Wiederauferstehung. Darüber werden beide sehr glücklich sein und wieder den Tanz der Liebe miteinander tanzen.
In den letzten Jahrzehnten haben Frauen und Männer die Kleider vertauscht. Frauen haben die Hosen angezogen, nachdem ihre Mütter ihnen täglich demonstrierten, dass ihr Frau-Sein mit Leid, Ohnmacht, Verzicht und Frustration verbunden ist und zugleich die Väter anklagten und selten ein gutes Haar an ihnen ließen. Weniger als drei Prozent aller Frauen geben an, dass ihre Mutter gerne eine Frau gewesen sei. Ein solches Vorbild prägt.
Und genauso wenige Jungen hörten von ihrer Mutter etwas Positives über ihren Vater. So hatten die Mädchen allen Grund sich zu entscheiden, nicht so zu werden wie ihre Mutter. Und ebenso war die Botschaft für den Jungen klar und deutlich: „Werde nicht so wie dein Vater!“. Dieser Schwur „Ich will nicht so werden wie…“ sitzt bis heute tief in Frauen wie in Männern und hält sie in einer Verstrickung mit ihren Eltern der Kindheit gefangen, deren Ausmaß ihnen nicht bewusst ist und die sie in Zuständen der Verwirrung, Resignation und Verzweiflung hält.
Männer haben weit mehr gemeinsam, als der einzelne Mann es meist vermutet. Und wenn sie dieses Gemeinsame entdecken, dann erkennen sie, wie sie den heutigen Zustand ihres Lebens selbst erschaffen haben. Der normale Mann geht nach dem Elternhaus in eine Phase, in der er „es“ schaffen will. Er stürzt sich in eine Arbeit und klotzt ran. Er will Erfolg haben und gutes Geld verdienen, als Angestellter oder als Selbständiger. Denn ein „richtiger“ Mann definiert sich und seinen Wert zuerst über Erfolg und Geld und stürzt sich in das Machen und Tun. Dieser einseitige Leistungsweg wird für die meisten Männer zum Lebensweg. Leben heißt für sie, etwas zu leisten, es zu etwas zu bringen. Von dieser Spur kommen sie so schnell nicht herunter. Erst eine Krise des Körpers, der Psyche oder der Beziehung zur Frau, Arbeitslosigkeit oder die Pensionierung wirft sie aus dieser Spur. An seiner Arbeit hält der Mann fest wie die Table Tänzerin an ihrer Stange; nimmt man ihm diese Stange weg, fällt er und das meist tief.
Der Mann versteht sich also vor allem als der arbeitende Mann. Hat er nichts zu tun, kann er mit sich nichts anfangen und ist verzweifelt. Die Angst, diese „Stange“ zu verlieren, treibt zurzeit immer mehr Männer um und wird noch zunehmen. Und wie Männer auf Angst reagieren, das sehen wir täglich in Firmen und Beziehungen. Er greift verzweifelt zu Pillen und Alkohol. Oder er lenkt sich durch extremes Verhalten im Sport, im Sex oder in anderen Aktivitäten ab. Und er wird aggressiv, besonders sich selbst gegenüber. Entsprechend sehen die Körper von Männern ab vierzig, spätestens fünfzig aus.
Der Magen übersäuert, der Rücken voller Verspannungen, die ersten Bandscheiben dahin, das Herz angegriffen, das Atmen geht schwer, die Gelenke schmerzen, die Galle produziert Steine, seine Probleme gehen ihm an die Nieren, nachts schläft er nicht mehr durch und im Bett macht sein Penis schlapp. Impotenz und die Angst davor sind weiter verbreitet, als allgemein angenommen. 16 Millionen Viagra-Nutzer in Europa sind lediglich die Spitze eines Eisberges. Und das sind nur einige der weit verbreiteten Symptome.
Die Fixierung auf Arbeit, Geld und Erfolg hat den Mann an den Rand eines Abgrunds geführt. Nicht wenige verzweifeln und nehmen sich das Leben, es sind dreimal so viele wie bei den Frauen, vor der Rente und auch danach. Andere sterben den langsamen Tod an gebrochenem Herzen oder verfallen in tiefe Depression und Antriebslosigkeit.
Das alles beruht weder auf Schicksal noch auf der Dummheit von Männern, sondern auf ihrer Unwissenheit und auf alten eingefahrenen Mustern des Denkens und Verhaltens. Wir Männer können verstehen lernen, warum wir diesen Weg gegangen sind und uns in diese tiefe Krise hinein manövriert haben. Daran sind weder die Wirtschaft noch die Frauen schuld; daran ist niemand schuld, auch wenn sich die meisten Männer so fühlen, als hätten sie ihr Leben versemmelt und „es“ nicht geschafft
Bis ein Mann an seinem unglücklichen Zustand etwas ändert, dauert es meist ziemlich lange. Denn erstens hat er gelernt, dass Durchhalten und Aushalten zum Mann gehört wie das Rasieren am Morgen und zweitens sieht er einfach keine Alternative zu seinem einmal eingeschlagenen Weg.
Immer mehr Männer begreifen jetzt, dass sie kein Einzelfall sind, wenn sie die Orientierung verloren haben im Leben und sich fragen, wozu dieser ganze Kampf und Krampf gut sein soll. Hier geht es um das grundlegende Problem des Mannes, von dem alle Männer betroffen sind. Es geht um die Klärung von Fragen wie:
Für diese und ähnliche Fragen öffnen sich in dieser Zeit des großen Umbruchs immer mehr Männer. Nachdem viele Frauen oft schon seit zehn oder zwanzig Jahren auf dem Weg zu einem bewussten Frau-Sein sind, Selbstfindungsseminare besuchen, Yoga u.a. praktizieren, meditieren und Frauen-Bücher lesen, macht sich der Mann jetzt zu sich selbst auf. Natürlich hat es immer schon ein paar wenige Männer gegeben, die sich in Tantra-, Meditations- oder Männergruppen getroffen haben.
Aber in diesen Jahren wachen die bisher „ganz normalen“ Männer auf, die noch vor kurzem für unmöglich gehalten hätten, sich mit anderen Männern über die oben genannten Fragen rund um’s Mann-Sein zu unterhalten. Auch der Mann ist jetzt an einer T-Kreuzung der Zeit angelangt, an der es nicht mehr geradeaus weitergeht wie bisher, sondern wo er gezwungen wird, sich bewusst zu entscheiden, welchen Weg er mit sich selbst in Zukunft gehen will.
Entweder zwingt ihn sein Körper dazu, der ihm schmerzhaft klar macht, dass er etwas ändern muss und dass Pillen keine Lösung sind. Oder seine Partnerin zeigt es ihm, die ihn nach zehn, zwanzig oder dreißig Jahren Ehe verlässt und aus Starre und Langeweile ausbricht oder das Klima und der Druck am Arbeitsplatz oder die plötzliche Entlassung lassen ihn zusammenbrechen oder aufwachen. Der Mann begreift jetzt immer mehr, dass er für seinen bisherigen Weg über die Leistung nicht mehr belohnt wird und dass sich dieser Weg letztlich nicht lohnt.
Dem Mann wurde von früh an vermittelt, dass er sich vor allem um das Machen kümmern soll, dass er viel tun müsse, um irgendwann genug zu haben. Und wenn er etwas habe und Geld, Grundstück, Haus oder Auto besäße, dass er dann etwas sei, weil die anderen, die Gesellschaft ihm dann eine Urkunde ausstellen und ihm bestätigen würde: „Du hast bestanden. Gratulation!“ Hast du was, dann bist du was! Hast du nichts, dann bist du auch nichts. Jetzt begreifen immer mehr Männer, dass dies ein Irrweg war und ist und dass diese Urkunde, selbst wenn er sie erhalten würde, absolut wertlos wäre. Der Mann muss und wird sich selbst wieder in den Mittelpunkt seiner ganzen Aufmerksamkeit stellen dürfen und sich zum wichtigsten Menschen in seinem Leben erklären und auch so behandeln und nicht wie einen Hamster im Laufrad. Davon wird seine Partnerin in großem Maße profitieren.
2009 bot ich zum ersten Mal ein reines Männerseminar an und in 2011 nahmen schon mehr als 1000 Männer daran teil. Das wäre vor zehn Jahren noch undenkbar gewesen! Zu diesen Männern gehörten einfache Angestellte, Handwerker und Rechtsanwälte, Förster und Kreativ-Direktoren, IT-Manager und Firmenvorstände, Lehrer, Therapeuten, Pastoren und Ärzte im Alter von 25 bis 70 Jahren. Sowohl diese Männer als auch ich selbst waren überrascht, wie schnell sie bereit waren und sind, nach innen zu gehen, ihre unterdrückten Gefühle fühlen zu lernen und wieder auf die Stimme ihres Herzens zu hören, anstatt weiter den eingefahrenen Gedanken ihres Verstandes zu folgen. Sie übernehmen jetzt ihre Verantwortung für ihre Schöpfungen, hören auf, ihr Glück von der Frau zu erwarten und beginnen, sich um sich selbst zu kümmern. Die Reaktionen vieler Frauen auf ihre vom Seminar heimkehrenden Männer: Mein Mann ist wie ausgewechselt. Herzlichen Dank für diesen neuen Mann.
Artikel entnommen aus dem Balance Magazin 3/2012