Jeder von uns war in seiner Kindheit abhängig von mindestens ein, oft von mehreren Personen. Ein Kind braucht neben physischer Nahrung Aufmerksamkeit. Es will bemerkt werden, es braucht Kontakt, Ansprache, Berührung und das Gefühl: „Ich werde hier gesehen, bemerkt“. Diese Aufmerksamkeit ist feinstoffliche Nahrung für jedes Kind, ohne die es nicht überlebt.
Diese Energiequelle namens Aufmerksamkeit sprudelte in so gut wie keinem Elternhaus übermäßig stark. Nicht weil die Eltern nicht ihr Bestes gaben – das taten alle. Sie selbst waren im Innern verletzte Kinder, die jetzt Kinder erziehen sollten. Es klingt hart, aber es ist wahr: Eltern können ihre Kinder nicht glücklicher machen, als sie es selbst sind. Sie geben ihre unterdrückten Gefühle an ihre Kinder weiter, ihre Erwartungen, Forderungen und Wünsche (die sie selbst in ihrem Leben nicht verwirklichten). Das Kind findet intuitiv heraus, mit welcher Überlebensstrategie es die meiste Aufmerksamkeit von Mutter oder Vater erhalten kann.
Jedes Kind tut es alles, um ein Maximum dieser Aufmerksamkeit zu erhalten. Es passt sich – je nach Elternverhalten und –erwartung - entweder an, ist brav, nett lieb. Oder es beginnt, sich durch Fleiß (in Schule und/oder Sport) Punkte zu verdienen. Andere werden zum nörgligen oder bockigen ‚Rebellen’, zum Nein-Sager, den man nicht ignorieren kann. Viele versuchen gar, zum Perfektionisten zu werden, weil sie sich sagen: „Wenn ich einmal perfekt bin und keine Fehler mehr mache, werde ich nur noch gelobt und nicht mehr kritisiert“ und leiden ein Leben lang unter diesem immensen Druckmuster, bis sie es erkennen und auflösen können.
Wieder andere werden zum kleinen Schauspieler oder Clown oder werden öfter krank, weil ein krankes Kind in der Regel mehr Beachtung erhält als ein gesundes. Und ein großer Teil wird zugleich zum selbsternannten „Retter“ der leidenden Mutter oder des schwachen Vaters und wiederholen dieses Muster in mehreren Partnerbeziehungen.
Diese Überlebensstrategien, die aus der Sicht des Kindes absolut sinnvoll waren, legen wir später jedoch selten ab, weil sie uns nicht bewusst sind. In unseren Partnerschaften und Freundschaften finden wir sie alle wieder.
Schon weit vor der Pubertät sind Kinder mit ihren Eltern oder einem Elternteil heillos verstrickt. Das Macht-Ohnmachts-Gefälle und die Verstrickung der Eltern mit ihren Eltern bedeutet für jedes Kind, auch im ‚besten Elternhaus’ immer eine große Abhängigkeit von diesen.
Am größten ist diese Abhängigkeit dort, wo Eltern es ‚besonders gut’ machen wollen, aber gleichzeitig hohe unbewusste Erwartungen an ihr Kind haben. Sie wollen meist, dass die Kinder etwas erreichen, was sie selbst nicht erreichen oder dass diese ihrem eigenen Narzissmus dienen und sie gut dastehen lassen als Eltern eines erfolgreichen Vorzeigekindes.
Solche Eltern, die oft wie ein Helikopter dauernd über dem Kind kreisen, ihm ein Handy schenken, damit sie über jeden seiner Schritte informiert sind, sie mit dem Elterntaxi von hier nach dort karren, züchten Menschen heran, die nicht früh lernen, mit den Themen Verluste, Versagen und Scheitern umzugehen und später umso tiefer in Krisen fallen müssen.
Für jeden von uns ist die Befreiung aus solchen Muster, aus den in feinstofflichen wirkenden Verstrickungen mit den Eltern oder anderen Schlüsselpersonen der Kindheit heute die größte Tür in unsere Freiheit, zu einem authentischen Leben, in dem wir auf unser eigenes Herz hören und diesem konsequent folgen. Diese Befreiung kann jeder erreichen, besonders in Meditationen wie „Der Vater/die Mutter meiner Kindheit“.
Artikel entnommen aus der Newsage-Ausgabe 04/2012