Bis an die Schmerzgrenze - und darüber hinaus

Wenn Stress und Ruhelosigkeit das Leben bestimmen -
Veranstaltungen zum Thema Entschleunigung

VON MARIE-ANNE SCHLOLAUT

Wer das Tempo nicht mitmacht, schlimmer noch, wer nicht mithalten kann, der hat schon verloren. Er wird als Versager im atemlosen Lauf der Rastlosen auf der Strecke bleiben. In der Gesellschaft, im Arbeitsalltag, ja selbst in der Familie und der Freizeit ist der Ausverkauf der Zeit angesagt. Kein neues Phänomen, aber eins, das sich bedrohlich zuspitzt. Schon der Schriftsteller Franz Kafka (1883-1924) notierte in sein Tagebuch: "Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heißt, die Ruhelosen, mehr gegolten." Im Rückblick kann man Kafka prophetische Kräfte attestieren.

In Japan hat die Regierung vor Jahren nach einer erschreckenden Serie von Selbstmorden den Leitsatz postuliert: langsames Leben. Nicht ganz uneigennützig, denn anhand von Studien wurde deutlich, dass die japanische Wirtschaft Milliarden sparen könnte, wenn Beschäftigte ausgeruht zur Arbeit kämen und Zeit hätten, weil sich dadurch die Zahl der Fehler drastisch reduzieren ließe.

Schutz vor Überlastung gefordert

Nicht nur in Japan, auch in den westlichen Industrienationen haben sowohl fremdbestimmte als auch selbst inszenierte Rastlosigkeit und steigender Zeitdruck den Zenit überschritten, so dass sogar Politiker den Ernst der Lage erkennen. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) forderte jüngst den Schutz vor Überlastung - durch "glasklare Regeln, zu welchen Uhrzeiten muss ich erreichbar sein und wann bekomme ich dafür meinen Ruheausgleich".

"Der Takt, der uns kaputt macht - Warum wir unser Leben entschleunigen müssen" ist der Titel zweier Großveranstaltungen, die der "Kölner Stadt-Anzeiger" am 5. und am 19. November veranstaltet (siehe Infokasten rechts). Am 5. November wird Rudolf Wötzel der besondere Gast des Abends sein. Der einstige Top-Investment-Banker, der derzeit auch in dem Kinofilm "Speed - Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" zu sehen ist, beschreibt seinen Alltag vor der Zeit des Umdenkens so: "Für den Beruf hatte ich jede Woche in scharf rhythmisierte Aktivitäts-Intervalle eingeteilt: voller Sprint an den Arbeitstagen bis jenseits der Schmerzgrenze, physische und seelische Schadensbegrenzung am Wochenende. Wahlweise sieben Tage Sprint plus Durchstarten in die nächste Arbeitswoche." Damit gehörte Wötzel wie Millionen andere Arbeitnehmer bundesweit zu den rotierenden Vielbeschäftigten, deren Zahl im familiären und im Freizeit-Bereich stetig steigt.

Laut DKV-Report "Wie gesund lebt Deutschland?" unter Federführung von Prof. Dr. Ingo Froböse vom Zentrum für Gesundheit an der Deutschen Sporthochschule Köln leiden in Nordrhein-Westfalen 58 Prozent der Befragten unter Stress, Überlastung und Zeitdruck und haben keine oder nicht genügend Ausgleichsmechanismen, um diesen Druck abzubauen. Bundesweit wird die Zahl derjenigen, die permanent am Rad drehen, mit 52 Prozent bei den Befragten angegeben. Andere Studien belegen, dass 1990 schon 48 Prozent der Arbeitnehmer über Zeitmangel klagten, zehn Jahre später waren es schon 58 Prozent.

Mehr Ausfalltage durch Stress

Krankenkassen geben immer Geld aus für die Behandlung psychischer Probleme. In ihrem Jahresbericht gibt die AOK für 2011 mit 22,5 Tagen pro Versichertem den höchsten Stand an Ausfalltagen aufgrund psychischer Belastungen an, die damit Platz eins einnehmen, deutlich vor Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems. Der Soziologe Alfred Oppolzer, Professor für Industrie- und Betriebssoziologie, konstatiert: "Körperliche Belastungen stagnieren, die psychischen Belastungen nehmen drastisch zu." Allein der Umsatz an Antidepressiva und Beruhigungsmitteln steigt jährlich um rund zehn Prozent.

Die Menschen versuchen, sich die verlorene Zeit zurückzukaufen und den Druck, der auf ihnen lastet, zu minimieren, indem sie Ruhe in Klöstern, bei der Meditation und in Schweigeseminaren suchen, um danach wieder in die "Hurry sickness" zu verfallen - die Geschwindigkeitskrankheit. Das Hamburger Institut von Professor Peter Wippermann, einem der führenden Trendforscher, erklärt die Angler, Bogenschützen und Wanderer als die neuen Helden der gehetzten Zeit, in der den Menschen sogar ihre Kündigung als Nachricht auf dem Handy übermittelt wird, weil es so schön schnell und unpersönlich ist. Die Nonstop-Gesellschaft kennt und duldet kein Innehalten.

Das musste sich nach seinem Schlaganfall auch Wolfgang Niedecken, der besondere Gast in der Veranstaltung am 19. November, zwangsverordnen. Der Musiker, der so lässig wie diszipliniert sein kann, hat seine Zeiträuber - Besprechungen, Termine, neue Techniken - in ihre Schranken verwiesen. Er hat gelernt, achtsam mit sich umzugehen und einzufordern, dass sein Umfeld es ihm gleichtut. Ein hartes Stück Arbeit, wenn man es für sich, seine Familie und im Beruf umsetzen will und nicht zu den Privilegierten gehört, denen Beruf und Vermögen den Einstieg in den Wertewandel erleichtern.

Veranstaltungen

Der Takt, der uns kaputt macht - Warum wir unser Leben entschleunigen müssenist der Titel der zwei Großveranstaltungen am 5. und 19. November, Beginn jeweils um 19.30 Uhr, die der Kölner Stadt-Anzeiger zusammen mit der Pronova BKK im großen Saal des Gürzenich, Martinstraße 29, Köln-Innenstadt, veranstaltet.

Veranstaltung 5. November
Prof. Dr. Dr. Klaus Bergdolt,
Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an den Unikliniken Köln, der sich intensiv mit den Ursachen und den beängstigenden Auswirkungen des beschleunigten Lebens befasst hat.
Robert Betz, Diplom-Psychologe, der mit seinen Büchern, Vorträgen und Seminaren im In- und Ausland den Menschen anschaulich zeigt, wie sie zu sich, zu einem gesunden Rhythmus und zu einem erfüllten Leben finden können.
Besonderer Gast des Abends ist:
Rudolf Wötzel einst Top-Banker und Investment-Experte, bis er Opfer seiner eigenen Schnelllebigkeit wurde. Er wanderte ein halbes Jahr quer über die Alpen, fand zu sich und zu einem neuen Takt des Daseins, schrieb ein Buch darüber und hält heute vor den Getriebenen des Lebens beeindruckende Vorträge.

Veranstaltung 19. November:
Prof. Dr. Dr. Klaus Bergdolt
Robert Betz

Besonderer Gast des Abends ist:
Wolfgang Niedecken, Kult-Rocker, Sänger, Frontmann von Bap, Künstler, engagiert in vielen Projekten und ausgezeichnet mit vielen Preisen, den im November 2011 ein Schlaganfall zwang, sein Leben und seinen Lebensrhythmus zu entschleunigen.

Moderation an beiden Abenden:
Marie-Anne Schlolaut

Karten zum Preis von jeweils 13 Euro zzgl. Vorverkaufsgebühren - Studenten und Schüler 10,50 Euro zzgl. Vorverkaufsgebühr - gibt es bei Kölnticket und im Servicecenter des Kölner Stadt-Anzeiger, Breite Straße 72, Köln-Innenstadt.
02 21 / 28 01
www.koelnticket.de

Abocard-Inhaber erhalten einen Rabatt von 10 Prozent (gilt nicht für VVK-Gebühr). Dieser kann nur gewährt werden bei Ticketkauf im Servicecenter.
Abocard-Hotline: 02 21 / 28 03 44
www.exklusiv-abo.de

Ständig steigender Zeitdruck

Der permanent gehetzte Mensch kollabiert vor allem im Urlaub, in der Freizeit oder mit Beginn des Rentenalters, da der Entzug der Stresshormone wie Cortisol den daran gewöhnten Körper gefährden kann. Forscher der Universität Bielefeld haben herausgefunden, dass Cortisol in Stresssituationen zwar die Seele schützt, größere Mengen jedoch dazu führen können, dass der Mensch weniger emotional reagiert, also gefühlskalt wird.

Wissenschaftler und Forscher fordern angesichts des ständig steigenden Zeitdrucks ein Recht auf Bedenkzeit und nicht etwa ein Recht auf Faulheit.

Nach Untersuchungen des Lego Learning Institute (LLI) leiden in der Bundesrepublik und anderen Industrienationen schon vier von fünf Kindern unter Zeitdruck.

70 von 100 Projekten in Betrieben werden nicht erfolgreich beendet, weil die Prozesse durch den vermeintlich schnellen Wandel unterbrochen oder ganz verworfen werden.

Reizüberflutung und das Gefühl des Kontrollverlusts angesichts der Fülle von Informationen versetzen Menschen unter Zeitdruck in Angst. Die zeitgleichen Aktivitäten in der virtuellen Welt der Netze und der realen Welt des Lebens überfordern den einzelnen Menschen. Allein das Online-Nachschlagwerk Wikipedia hätte 2,25 Millionen Seiten, wenn es als Buch gebunden wäre. (mas)

Rennen als Religion

Experten glauben: Das Leben wird sich wieder entschleunigen

VON MARIE-ANNE SCHLOLAUT

Gehetzt, genervt, eilig von Termin zu Termin: Atemlosigkeit im Alltag und im Arbeitsleben, ein enormes Lebenstempo - viele Menschen scheinen angesichts dessen mittlerweile an einem Punkt angekommen zu sein, den sie nicht mehr überschreiten wollen und können. Ihre Sehnsucht lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen: Tempo reduzieren, sich verweigern und entschleunigen.

Professor Klaus Bergdolt, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an den Unikliniken Köln, bringt es auf die Formel: "Zeitdruck und stetig steigendes Arbeits- und Lebenstempo haben zur Folge, dass in unserer Gesellschaft Schwäche nicht mehr geduldet wird." Wer nicht mithalten kann, der wird auch nicht mehr gebraucht. Es ist kein Platz für Defizite, und, so Bergdolt, "menschliche Schwächen werden nicht mehr zugelassen. Mit zunehmendem Wettbewerb und unter steigendem Zeitdruck "wird der Mensch offensichtlich hart und mitleidlos. Die Fähigkeit mitzufühlen und die Bereitschaft zum Gespräch schwinden". Beobachten kann das jeder an sich selbst. Wer schnell etwas erledigen muss, lässt sich nun mal nicht aufhalten von dem, der ihm mitteilen möchte, was er erlebt hat oder wie es ihm geht.

Klaus Bergdolt ist einer der prominenten Gäste der zwei Großveranstaltungen des "Kölner Stadt-Anzeiger" und der Pronova BKK unter dem Titel "Der Takt, der uns kaputt macht - Warum wir unser Leben entschleunigen müssen" (siehe Kasten rechts). Und wer wie Bergdolt bei den großen Dichtern, Denkern und Schriftstellern in Sachen Zeitdruck und Entschleunigung nachforscht, der könnte denken, sie leben alle noch mitten unter uns, denn sie haben sich schon vor Hunderten von Jahren kritisch mit der atemlosen Hetze auseinandergesetzt. Sie haben erkannt, dass der Mensch die Zeit zwar zählen kann, aber er kann sie nicht zähmen. Und schon gar nicht kann er sie missbrauchen für seine ruhelosen Ambitionen.

Dringend geboten: Weniger Eile

Tempo machen, immer mehr, immer besser, möglichst 24 Stunden am Tag. Das hat sogar Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) auf den Plan gerufen. "Ein Novum, dass Politiker dieses anmahnen," sagt Professor Bergdolt und wertet dies zugleich als eins von vielen Indizien, dass es höchste Zeit wird zu handeln - sowohl für den einzelnen als auch für die Gesellschaft.

Höchste Zeit wird es auch für die, von denen wir uns eigentlich Hilfe erhoffen, wenn Atemlosigkeit uns die Lebenskraft raubt: die Mediziner. Umfragen belegen, wie sehr Ärzte unter Zeitdruck und Stress leiden. Der daraus resultierende gesundheitliche Schaden für Körper und Seele ist enorm. Ähnlich beängstigend sind die Zahlen bei Lehrern. Bergdolt: "Lehrer entschleunigen tatsächlich häufig, aber oft zu spät und aus Frust."

Andere versuchen, auf dem Gipfel der Beschleunigung kehrt zu machen. "Signifikante Beispiele sind Auszeiten, die sich Väter für ihre Familie nehmen," so Bergdolt, "oder die Generation Y und ihre Denkweise." Die "Generation Y" sind jene gut ausgebildeten jungen Akademiker, die beim Vorstellungsgespräch mittlerweile wie selbstverständlich die Frage stellen: "Wie sind denn bei Ihnen die Arbeitszeiten?" Ein vor Jahren undenkbarer Auftritt für die Bewerbung, der das Gespräch von jetzt auf gleich beendet hätte.

"Aber", so der Wissenschaftler Bergdolt, "es wird uns wirtschaftlich kaum schlechter gehen, wenn wir entschleunigen, im Gegenteil. Wir geben auch nicht unsere preußischen Tugenden auf wie Pflichtgefühl, Redlichkeit, Fleiß, Ehrgeiz und das Bemühen, jede Aufgabe unter Anspannung aller Kräfte zu lösen. Preußische Tugenden lassen sich auch mit einer sinnvollen Zeitordnung kombinieren."

Mag sein, dass uns demnächst diese neue Zeitordnung von denen nahe gebracht wird, deren Anteil an der Gesellschaft prozentual immer mehr zunimmt: den Alten. Sie können beim gegenwärtigen Tempo nicht mithalten, aber sie werden in einer stetig alternden Gesellschaft in der Mehrheit das Tempo vorgeben - mit einem deutlich anderen, einem entschleunigten Takt.

Der Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) schrieb 1778, noch jung an Jahren, in einem Brief, dass ihm "alles veloziferisch", also "teuflisch-schnell" vorkomme. In dem Text heißt es: "Für das größte Unheil unsrer Zeit, die nichts reif werden lässt, muss ich halten, dass man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im Tage vertut, und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen..."

Klaus Bergdolt transportiert es in unsere Zeit: "Wir haben eine neue Religion, das ist die Religion der Beschleunigung. Sie ist für die, die mithalten können, ein Glaubensbekenntnis."

Kein Bekenntnis von Dauer - dieser Verdacht drängt sich zumindest auf. Über kurz oder lang wird wohl der Hebel umgelegt werden. Wer sich dem mörderischen Takt widersetzt, sagt Bergdolt, "der ist nicht faul, sondern er merkt, dass das nicht menschlich ist".

Veranstaltungen

Der Takt, der uns kaputt macht - Warum wir unser Leben entschleunigen müssenist der Titel der zwei Großveranstaltungen am 5. und 19. November, Beginn jeweils um 19.30 Uhr, die der Kölner Stadt-Anzeiger zusammen mit der Pronova BKK im großen Saal des Gürzenich, Martinstraße 29, Köln-Innenstadt, veranstaltet.

Veranstaltung 5. November
Prof. Dr. Dr. Klaus Bergdolt,
Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an den Unikliniken Köln, der sich intensiv mit den Ursachen und den beängstigenden Auswirkungen des beschleunigten Lebens befasst hat.
Robert Betz, Diplom-Psychologe, der mit seinen Büchern, Vorträgen und Seminaren im In- und Ausland den Menschen anschaulich zeigt, wie sie zu sich, zu einem gesunden Rhythmus und zu einem erfüllten Leben finden können.
Besonderer Gast des Abends ist:
Rudolf Wötzel einst Top-Banker und Investment-Experte, bis er Opfer seiner eigenen Schnelllebigkeit wurde. Er wanderte ein halbes Jahr quer über die Alpen, fand zu sich und zu einem neuen Takt des Daseins, schrieb ein Buch darüber und hält heute vor den Getriebenen des Lebens beeindruckende Vorträge.

Veranstaltung 19. November:
Prof. Dr. Dr. Klaus Bergdolt
Robert Betz

Besonderer Gast des Abends ist:
Wolfgang Niedecken, Kult-Rocker, Sänger, Frontmann von Bap, Künstler, engagiert in vielen Projekten und ausgezeichnet mit vielen Preisen, den im November 2011 ein Schlaganfall zwang, sein Leben und seinen Lebensrhythmus zu entschleunigen.

Moderation an beiden Abenden:
Marie-Anne Schlolaut

Karten zum Preis von jeweils 13 Euro zzgl. Vorverkaufsgebühren - Studenten und Schüler 10,50 Euro zzgl. Vorverkaufsgebühr - gibt es bei Kölnticket und im Servicecenter des Kölner Stadt-Anzeiger, Breite Straße 72, Köln-Innenstadt.
02 21 / 28 01
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Abocard-Inhaber erhalten einen Rabatt von 10 Prozent (gilt nicht für VVK-Gebühr). Dieser kann nur gewährt werden bei Ticketkauf im Servicecenter.
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Info

49 Prozent der Beschäftigten arbeiten laut einer Studie des Bürodienstleisters Regus selbst im Urlaub bis zu drei Stunden täglich.

Fast jeder zehnte Berufstätige arbeitet in seiner Freizeit sogar noch mehr. In anderen europäischen Länden arbeiten Beschäftigte im Urlaub noch deutlich mehr als die Deutschen. Mittlerweile leiden 25 Prozent der deutschen Männer, die im Berufsleben stehen, unter Erschöpfung und Depressionen. In Ländern wie Japan ist die Selbstmordrate bei Berufstätigen enorm hoch. (dpa/mas)

Topbanker wird Bergpilger

Im Gürzenich spricht Rudolf Wötzel über die Entschleunigung des Lebens

VON MARIE-ANNE SCHLOLAUT

Gänsehaut kriecht langsam hoch, wenn man die Zeilen liest, die Rudolf Wötzel am Ende seiner 1800 Kilometer langen Wanderung in seinem Buch schreibt. Aufgebrochen ist er in Salzburg, nach einem halben Jahr hatte er sein Ziel Nizza erreicht: "Dann ist es so weit. Ich stehe am Strand, schaue ins aufgewühlte Meer... Den Rucksack lege ich ab, gehe langsam nach vorne, hinein ins Wasser, immer weiter, bis mich die salzigen Fluten umschließen." Rudolf Wötzel, 49 Jahre alt, hat sein Leben radikal verändert und ihm einen ganz neuen, er sagt, einen ganz wunderbaren Takt gegeben. Mitzuerleben ist das derzeit im Kinofilm "Speed - Auf der Suche nach der verlorenen zeit", in dem Rudolf Wötzel zu sehen ist.

Der gebürtige Münchner hat eine Traumkarriere hingelegt. Als Investmentbanker unter anderem bei Lehman Brothers, der Deutschen Bank und als Berater für das Top-Management hat er den schnellen Puls der Geldwelt gefühlt. Er hat bei Firmenübernahmen mit riesigen Summen beraten. Und reichlich Geld verdient. Sein Leben gefiel ihm, auch oder gerade weil der Takt atemberaubend schnell war. Irgendwann zeigten sich erste Risse in dieser Hochglanz-Existenz. Körper und Immunsystem spielten nicht mehr so selbstverständlich mit. Wötzel musste fast jeden Monat Antibiotika nehmen, Panikattacken, Bandscheibenvorfälle kamen dazu. "Ich hatte das Gefühl, nicht mehr leistungsfähig zu sein", sagt er.

Er beschloss - ganz langsam, ganz akribisch - ein anderes, ein neues Leben anzufangen. In seiner Jugend hatte er vor allem mit seinem Vater, einem begeisterten Bergsteiger, viele Wandertouren unternommen. Die Berge und die Herausforderungen waren ihm also vertraut. Er beschloss, von Salzburg nach Nizza über die Alpen zu gehen. Er machte fünf Millionen Schritte und am Ende fand er sich - eine Erfahrung, die schon während der Wanderung spürbar wurde. Im Lauf der Wochen und Monate wurde er offen für die Zufälligkeiten des Tages, folgte seiner Intuition und nicht mehr ausschließlich seinem Plan. Eine Haltung, die seitdem sein privates und berufliches Leben prägt.

Wötzel hat sein anderes Leben minuziös geplant - leistungsorientiert eben, nur diesmal in den Alpen. Er skizzierte und berechnete jede Route dieser Reise ins Ungewisse. Doch in der Welt der Alpen mutierte er von Etappe zu Etappe vom Leistungsjunkie zum Bergpilger. Er lernte mit der Gelassenheit eines Menschen zu leben, der begriffen hat, wie wertvoll jeder Moment ist. Er hat über diese Zeit der Wende ein Buch geschrieben: "Über die Berge zu mir selbst". Sein zweites Buch erscheint im Sommer 2013.

1800 Kilometer in 120 Etappen

Ende 2006 hat der Banker Wötzel seine Kündigung eingereicht. Aber die Angst vor dem, was kommen würde, kroch in ihm hoch. "Ich sagte mir, das ist jetzt einfach eine Erholung, die du da machst, mehr nicht." Damit nahm er dem, was er vorhatte, das Gigantische: 1800 Kilometer, lagen vor ihm, 856 Stunden Marschzeit, 120 Etappen, 129 Gipfel, 33 Viertausender, 65 Dreitausender, 63 Hütten. Hinter ihm lag, dass er in seinen erfolgreichen Bank- und Beratungsgeschäften Anerkennung und Bewunderung geerntet hatte. Das gibt man nicht so einfach auf. Trotz eines guten finanziellen Fundaments machte sich Panik vor dem sozialen Abstieg breit. "Ich malte mir aus, was wohl sei, wenn ich irgendwo unter der Brücke ende. Was die anderen von mir denken würden." Solche Angst-Szenarien brachten seinen Plan ins Wanken - aber mehr nicht. "In dem Moment, als ich gekündigt hatte, waren diese Ängste weg." Natürlich auch, weil Wötzel sich abgesichert fühlte. "Aber in den Bergen habe ich Menschen getroffen, die alles andere als abgesichert waren und trotzdem ihr Leben lebten. Keiner von denen hat es je bereut."

Ab und an, zu Beginn der Tour, stieg Rudolf Wötzel noch in einem Hotel ab. Dann immer seltener, dann nie mehr. Er lag mit Schafhirten in einer Hütte, teilte sich das Essen mit Menschen, denen seine Herkunft und Karriere schnurzegal waren. Banker Wötzel kommt aus einem leistungsorientieren Elternhaus; sein Vater duldete keine Schwächen. Dieses Denken hat er seinem Sohn eins zu eins mitgegeben. Aber auch, keinen Dünkel zu haben. Das hat ihm im Leben und auf den Bergen immer geholfen. Rudolf Wötzel, der mittlerweile im schweizerischen Klosters lebt, betreibt im Sommer seine Almhütte mit Jausenstation. Dort bietet er geführte Wanderungen und Seminare an. Im September ist Wötzel Vater geworden. Seine Partnerin hat er nach dem Ausstieg aus der Glitzerwelt kennengelernt.

Der Ex-Manager hadert nicht mit seinem "Leben vor der Zeit der Alpen". Es war gut so, so lange es ihm gefallen hat. Er hat sich immer mal wieder gefragt, "ob ich nicht zu viel Lebenszeit verballert habe". Wötzel ist zu dem Schluss gekommen, dass die Zeit als Banker notwendig war, um das zu finden, was er jetzt tut. "Ich bin kein Lebenskünstler, ich bin Unternehmer meines eigenen Lebens", sagt er. Zu allen Wertigkeiten, die ihm wichtig geworden sind, gehört vor allem, dass er wieder einen gesunden Körper hat. "Seit fünf Jahren habe ich kein einziges gesundheitliches Problem mehr." Dieser Körper hat ihn immerhin ein Jahr lang quer über die Alpen getragen. Rudolf Wötzel hat damit eine Investition getätigt, die sein Leben lang eine satte Rendite einbringen wird.

Ex-Banker Rudolf Wötzel lebt heute in den Schweizer Bergen.

Info

Rudolf Wötzel: Über die Berge zu mir selbst, 492 Seiten, Verlagsgruppe Random House, 19,95 Euro.

Im Kino-Dokumentarfilm Speed - auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Florian Opitz ist Wötzel in seinem neuen Leben zu sehen

"Ich bin umgestiegen"

Psychologe Robert Betz hat sein Leben entschleunigt - Veranstaltung im Gürzenich mit prominenten Gästen

VON MARIE-ANNE SCHLOLAUT

Wo komme ich als Person in dem ganzen alltäglichen Zirkus eigentlich noch vor?" Robert Betz rät eindringlich, sich dieser Frage zu stellen und vor allem eine Antwort darauf zu finden. Wenn der Mensch sich im Leben nicht positioniert, nicht erkennt, was ihm gut und was ihm nicht gut tut, wenn er es nicht spürt und nicht umsetzt, "dann wird sich das Anstrengungsprogramm verselbstständigen," sagt Robert Betz.

Der Diplom-Psychologe und Buchautor lehrt anschaulich in Seminaren und Vorträgen, wie man sein Leben managen und in Zufriedenheit takten kann, wie man der Selbstausbeutung Einhalt gebietet. Das macht er auf rund 80 Vortragsreisen pro Jahr bundesweit und zudem auf der griechischen Insel Lesbos, wo er in zwei Hotels regelmäßig Veranstaltungen anbietet. Betz leitet mittlerweile eine eigene Firma mit rund 40 Beschäftigten.

Robert Betz weiß, wovon er spricht, wenn es darum geht, das Leben sinnvoll zu entschleunigen und zu erkennen, dass der Einklang mit der eigenen Existenz den höchsten Wert hat und den größten Erfolg bringt. Er war Anfang 40 und als Manager im europaweiten Marketing einer Firma tätig. 80 Stunden Arbeit pro Woche waren normal, drei Länder in einer Woche zu bereisen auch. "Das war super. Es hat mir gefallen, ich war erfolgreich," resümiert Betz. Trotz dieses Hochgefühls verschaffte ihm der Rhythmus immer öfter Panikattacken in der Nacht. Schweißgebadet wachte er auf und schlief erschöpft erst dann wieder ein, wenn der nächtliche Horrortrip vorbei war. Tagsüber verdrängte er die beklemmenden Erlebnisse der Nacht.

Das ging so lange gut, bis er sich eingestehen musste, dass ihm, der Psychotherapie studiert hatte, keine der gängigen Therapien mehr half. Mit 42 musste er sich eine Besinnungszeit von zwei Monaten verordnen. Er durchstreifte die Eifel und kam zu dem Schluss: Ich fange neu und anders an. Robert Betz: "Ich bin nicht ausgestiegen, ich bin umgestiegen." Aussteigen, so urteilt Betz, bedeute auf der Flucht zu sein, und er sei nun mal nicht auf der Flucht: "80 Prozent der Aussteiger laufen vor ihrer Vergangenheit davon - meist vor den Eltern."

Betz hat sein Leben neu definiert, indem er auf dem von ihm gewählten Gebiet und mit der von ihm gewählten Intensität "bewusst arbeitet und gut arbeitet". Mit dieser Anforderung konfrontiert er auch seine Zuhörer. Das entschleunigte Leben, der richtige Takt hat für Betz nichts mit einem Leben in der Hängematte zu tun. "Ich wünsche, dass die Menschen sich eine innere Führung geben, damit sie sich klar werden, was sie wollen und wie sie es erreichen." Dazu gehören auch und vor allem Gefühle. Betz: "Die erste Phase sollte sein, dass man die Beziehung zu sich selbst analysiert." Der Therapeut empfiehlt, einen Spiegel in die Hand zu nehmen und sich einige Minuten selbst zu betrachten. "Es ist verdammt schwer, sich länger in die Augen zu gucken, dort vielleicht die Trauer zu erkennen, die Schwierigkeiten, das Gehetzte zu sehen."

Danach komme man nicht mehr umhin zu handeln. "Aber nicht, indem ich mit aller Macht dagegen ankämpfe, sondern indem ich in eine Weichheit mit mir selbst komme", rät Betz. Damit, so der Therapeut, mache man sich nicht angreifbar, wovor sich so viele fürchten. "Angreifbar ist der, der seine Gefühle versucht zu unterdrücken." Mit seinen Regeln will Robert Betz dabei helfen, zum Schöpfer des eigenen Lebens zu werden und anzuerkennen, dass es unverrückbare und individuelle Markierungen gibt, die den Rhythmus bestimmen. Es erleichtere das Dasein auch nicht, wenn man andere für seine Schieflage verantwortlich mache, sondern man solle sich schon "die ungeheuerliche Einsicht gönnen, dass wir selbst die Baumeister unseres Lebens sind", so Betz.

Er ermuntert "Frieden mit sich selbst zu schließen und im Urteil über sich selbst zu sagen, dass man es eben so gut gemacht hat und machen wird, wie man konnte und kann". Das verschafft den Menschen eine Erlebnistiefe, die sie bis dahin vielleicht nicht wahrhaben wollten. Dieses "Sich-Vergeben-können" nimmt den Druck aus dem Alltag und die Angst vor dem Versagen.

Meist sind es nämlich die Versagens-Ängste, die verhindern, dass man sich seiner unangenehmen Gefühle bewusstwird. Um diese unangenehmen Gefühle zu betäuben, muss man sich immer mehr beschäftigen, sei es in der Freizeit oder bei der Arbeit. Unter diesem Lebenstakt der Rastlosigkeit verkümmert der Mensch und beraubt sich der Möglichkeit zu erkennen, welche Fähigkeiten in ihm stecken.

Auch für den 59-jährigen Robert Betz war der Neuanfang nicht einfach: "Ich arbeite heute genauso viel wie früher, aber ich sorge besser für mich, weil ich weiß, was mir gut tut. Ich bin dankbar für jeden Tag, denn ich habe verstanden, wie mein Leben funktioniert." Betz hat sich verabschiedet von dem Anspruch "eigentlich wolltest du perfekt werden". Schon von weitem, sagt er, sei "Menschen mit dieser Lebensphilosophie die Unliebe zu sich selbst anzusehen."

Aus dem Lebenstakt der Rastlosigkeit auszubrechen, ist nicht immer einfach.

Veranstaltungen

Der Takt, der uns kaputt macht - Warum wir unser Leben entschleunigen müssenist der Titel der zwei Großveranstaltungen am 5. und 19. November, Beginn jeweils um 19.30 Uhr, die der Kölner Stadt-Anzeiger zusammen mit der Pronova BKK im großen Saal des Gürzenich, Martinstraße 29, Köln-Innenstadt, veranstaltet.

Veranstaltung 5. November
Prof. Dr. Dr. Klaus Bergdolt,
Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an den Unikliniken Köln, der sich intensiv mit den Ursachen und den beängstigenden Auswirkungen des beschleunigten Lebens befasst hat.
Robert Betz, Diplom-Psychologe, der mit seinen Büchern, Vorträgen und Seminaren im In- und Ausland den Menschen anschaulich zeigt, wie sie zu sich, zu einem gesunden Rhythmus und zu einem erfüllten Leben finden können.
Besonderer Gast des Abends ist:
Rudolf Wötzel einst Top-Banker und Investment-Experte, bis er Opfer seiner eigenen Schnelllebigkeit wurde. Er wanderte ein halbes Jahr quer über die Alpen, fand zu sich und zu einem neuen Takt des Daseins, schrieb ein Buch darüber und hält heute vor den Getriebenen des Lebens beeindruckende Vorträge.

Veranstaltung 19. November:
Prof. Dr. Dr. Klaus Bergdolt
Robert Betz

Besonderer Gast des Abends ist:
Wolfgang Niedecken, Kult-Rocker, Sänger, Frontmann von Bap, Künstler, engagiert in vielen Projekten und ausgezeichnet mit vielen Preisen, den im November 2011 ein Schlaganfall zwang, sein Leben und seinen Lebensrhythmus zu entschleunigen.

Moderation an beiden Abenden:
Marie-Anne Schlolaut

Karten zum Preis von jeweils 13 Euro zzgl. Vorverkaufsgebühren - Studenten und Schüler 10,50 Euro zzgl. Vorverkaufsgebühr - gibt es bei Kölnticket und im Servicecenter des Kölner Stadt-Anzeiger, Breite Straße 72, Köln-Innenstadt.
02 21 / 28 01
www.koelnticket.de

Abocard-Inhaber erhalten einen Rabatt von 10 Prozent (gilt nicht für VVK-Gebühr). Dieser kann nur gewährt werden bei Ticketkauf im Servicecenter.
Abocard-Hotline: 02 21 / 28 03 44
www.exklusiv-abo.de

Erschienen am 01.11.12 im Kölner Stadtanzeiger