Selige Sehnsucht

Sag es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebende will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.

In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung
Wenn die stille Kerze leuchtet.

Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung.
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.

Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.

Und solang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.

J.W. von Goethe, West-Östlicher Divan

Diese Gedicht fängt die wunderbare spirituelle Kraft ein, die im Herzen der Sehnsucht bebt. Es deutet an, dass sich in der Sehnsucht wahre Lebendigkeit verbirgt. Wenn wir uns der schöpferischen Leidenschaft hingeben, wird sie uns bis an die letzten Schwellen der Transmutation und der Erneuerung tragen. Dieses Wachstum, dieses „Werden“, bereitet uns Schmerz, doch es ist ein heiliger Schmerz. Es wäre weit schlimmer, diese Tiefen gemieden und auf der blanken Oberfläche des Banalen verharrt zu haben. (John O’Donohue)