Als die Zwillinge zweieinhalb waren, feierten wir das Fest der Familie noch friedlich und gemütlich. Unsere kleine Dolli hüpfte in feuchten Pampers immer um die Nordmanntanne rum und jubelte: "Einmachbaum! Einmachbaum!" Oma war unheimlich stolz auf Dollis sprachliche Fortschritte. Opa strahlte mit den Kerzen um die Wette. Unser kleiner Olli spiegelte sich in den silbrigen Weihnachtsbaumkugeln und betrachtete selbstverliebt seine ins Gigantische verformte Knollen- nase. Den Sack mit den Geschenken hatte der Ein- machmann heimlich vor der Wohnungstür abgestellt.

Gesehen hatte ihn keiner, aber er musste wohl da gewesen sein, denn plötzlich hatte es geläutet. "Das isser!" rief Opa. Die Kinder erstarrten. Im Treppenhaus jedoch stand, wie bestellt und nicht abgeholt, nur ein einsamer Gabensack herum.

"Kinder", rief die Mutti, "kommt schnell, der Einmachmann war da!

"Als die Zwillinge dreieinhalb waren, nannten auch sie den Einmachmann Weihnachtsmann und begannen, wie der Einzelhandel, schon Mitte August Knecht Ruprechts Erscheinen entgegenzufiebern. Darum hatten wir keine Wahl: Wir mussten ihn unbedingt auftreten lassen, leibhaftig, höchstpersönlich. Für diese Rolle engagierten wir einen begabten Volkskünstler, nämlich Onkel Andreas. Tante Annelie hatte sich gerade erst von ihm scheiden lassen, und Onkel Andreas war, wie sich bald herausstellte, über den Trennungsschmerz noch nicht hinweg. Um ihn auf weihnachtliche Gedanken zu bringen, beschaffte ich einen Purpurmantel mit Kapuze sowie einen schlohweissen Wallebart. Die Rute stammte komplett aus dem Stadtparkgebüsch. In der Vorweihnachtszeit übten unsere Zwillinge Lieder ein, mit denen sie dem Weihnachtsmann für seine vielen, vielen Geschenke danken wollten. Unsere Dolli entschied sich für den Titel: "Oh Tannenbaum, Oh Tannenbaum...", Olli für das Volkslied: "Heute hau'n wir auf die Pauke, und wir machen durch bis morgen früh."

Am Heiligen Abend stieg die Spannung ins Unerträgliche, und zwar schon lange vor dem Aufstehen. "Wann kommt er?" fragten die Kinder alle fünf Minuten. "Wann kommt er denn endlich?"

"Der Weihnachtsmann", argumentierte ich, "hat schrecklich viel zu tun. Er muss ja nicht nur euch beide bescheren, sondern ausserdem noch viele Millionen andere Kinder."

Zu Tode betrübt blickten die beiden von tief unten zu mir herauf, und ihre Augen füllten sich mit heissen Tränen.

Und tatsächlich, nach Einbruch der Dämmerung pochte es laut und vernehmlich an der Wohnungstür. Die Zwillinge flitzten ins Wohnzimmer und suchten Schutz hinter dem Lichterbaum. Ich öffnete. Der Weihnachtsmann in seinem Purpurmantel taumelte herein und grölte aus vollem Halse ein altehrwürdiges Weihnachtslied. Die Melodie stimmte einigermassen, der Text aber war nur bedingt jugendfrei. Er stammte aus der Feder von Onkel Andreas, und die erste Strophe lautete folgendermassen:

Alle Jahre wieder
kommt deher Weihnachtsmann
Frauen, schliesst das Miedeher,
rettehe sich, wer kann...

Mal abgesehen davon, dass dieser Weihnachtsmann absolut unmusikalisch war, zeichnete ihn die Stimmkraft eines Bayreuther Heldentenors aus, und ausserdem hatte dieser Himmelhund eine Fahne wie tausend besoffene Russen. Sogar die Kerzen begannen erschrocken zu flackern. Hastig pusteten wir sie aus, um einer Feuersbrunst vorzubeugen.

"Der eine", lallte der Weihnachtsmann, "liebt Rembrandt, der andere liebt Weinbrand, und man wird doch wohl mal fragen dürfen, ob der liebe, gute Weihnachtsmann in diesem Haushalt nicht endlich mal einen kleinen Absacker kriegen könnte!"

"Leider nein", sagte ich. "Aber was ich dich fragen wollte, lieber Weihnachtsmann: Wo ist eigentlich dein lieber Sack mit den Geschenken für die lieben Kinder?"

Der Weihnachtsmann hielt inne, tastete mit der linken Hand nach der rechten Schulter, mit der rechten Hand nach der linken Schulter, wurde aber weder hier noch da fündig und brüllte mit grösster Lautstärke: "Ach, du Scheisse!

"Die Kinder gingen hinter dem Opa in Deckung.

"Oh Gott, oh Gott", barmte die Oma, "wo sind wir bloss hingeraten - ein Weihnachtsmann, der den Sack in der Kneipe vergisst!"

Doch es kam noch schlimmer. Statt sich Asche aufs Haupt zu streuen, ging der Weihnachtsmann in die Offensive und belegte mich mit linksextremistischen Anwürfen und Anschnauzern: "Weissu, wassu bist? Eine Gesässvioline bissu! Ein Erfüllungsgehilfe des kapitalistischen Konsumterrors..." So hatte ich mir eine anständige deutsche Weihnacht nun wirklich nicht vorgestellt. Am liebsten hätte ich diesen Unterschicht-Nikolaus erwürgt. Die Mutti hielt sich die Ohren zu. Oma hielt sich die Augen zu. Opa schüttelte das Haupt. Und die Kinder fürchteten sich sehr.

Als sie viereinhalb waren, hatte Onkel Andreas schon lange Hausverbot. "Diesmal muss der Papa selber ran", entschied meine Frau. Mit erhobener Schwurhand versprach ich, dass es weitere Pleiten nicht geben werde. "Du weißt, Brigitte, Weihnachten war ursprünglich ein germanisches Fest - das Fest der Sonnenwende. Unsere Ahnen begingen es mit Sinngebäck und Lichtersprüchen: Grünt ein Tännlein irgendwo tief im Wald verborgen, macht die Herzen frei und froh wie ein lichter Morgen... "

Sie gab mir für die patriotisch-wertkonservative Ausgestaltung des Julfestes freie Hand. Unverzüglich beschaffte ich die passenden Geschenke: einen Plüsch-Wotan für Dolli, für Olli eine Landsknechtstrommel, für die Mutti einen roten Pullover mit schwarz-gelbem Brustring, für Oma schwarz-rot-goldene Pulswärmer, für Opa als Hörbuch Hitlers "Mein Kampf", gelesen von Wolfgang Schäuble. Und spätestens seit der Fussball-Weltmeisterschaft war mir völlig klar, dass die zeitgemässe Jultanne nicht allein mit schwarzen, roten und goldenen Kugeln, sondern ausserdem mit Winkelelementen und Lametta in den Farben schwarz-rot-geil geschmückt und anstelle einer popligen Christbaumspitze von einem funkelnden Bundesadler gekrönt werden musste. Die Kinder studierten, von der Mutti auf der Blockflöte begleitet, ein Weihnachtslied ein, ohne das eine deutsche Weihnacht keine deutsche Weihnacht sein kann: "Hohe Nacht der klaren Sterne..."

Eigentlich konnte gar nichts mehr schief gehen. Der Weihnachtsmann war nüchtern wie tausend anonyme Alkoholiker. Eine Larve verlieh meiner majestätischen Erscheinung den Ausdruck von Milde und Güte. "Von drauss' von Eberswalde komm' ich her", sprach ich mit konspirativ verstellter Stimme. Die Kinder spitzten die Ohren. Sie musterten den Weihnachtsmann aus Eberswalde mit gesundem Misstrauen. Irgendetwas kam ihnen bekannt vor, irgendetwas war ihnen verdächtig, und mir wurde allmählich heiss unter Larve und Purpurmantel.

Dann fasste sich unsere Dolli ein Herz. "Der Weihnachtsmann", flüsterte sie atemlos, "der spricht ja genau wie Papi!"

"Er hat Papis Gummistiefel an!" rief Olli, der olle Petzer. "Und Papis grüne Gartenhandschuhe auch!"

"Au weia!" sagte Dolli und nagte an ihrer Unterlippe. Ich schwitzte Blut und Wasser."Wo ist Papi überhaupt?" fragten beide wie aus einem Munde. "Wo isser? Warum kommt er denn nicht?"

"Keine Ahnung", muffelte ich kleinlaut, "dafür bin ich nicht zuständig, ich soll hier nur den Gabensack abliefern."

Dann ergriff ich die Flucht und tauchte fünf Minuten später im Kostüm des biederen Familienvaters fröhlich pfeifend wieder auf. Die Zwillinge raschelten in einem Riesenhaufen bunten Geschenkpapiers und packten immer noch mehr Päckchen aus. Feindselig, geradezu hasserfüllt musterten sie mich. Auch die Oma schüttelte missbilligend das Haupt. "Einmachmann!" zischte sie in meine Richtung. Unter diesen Bedingungen fiel mir nichts Besseres ein, als die Hände überm Kopf zusammenzuschlagen und mich hemmungslos zu wundern: "Was ist los, Kinder, war der Weihnachtsmann etwa schon da?

"Auch die Mutti war von mir masslos enttäuscht: "Gib dir keine Mühe, Sportsfreund! Sie sagen, Onkel Andreas hätte ihnen viel, viel besser gefallen!"